Matteo Hofer lebt und arbeitet in Bern / CH: Kontakt


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«Iterationen zwischen Linie und Landschaft»

Matteo Hofers Arbeit an der Zeichnung steht in einer Tradition, in der die gezeichnete Linie über die Metaphern des Weges und des Horizonts in die Vorstellung von Landschaft ›eingewandert‹ ist. Seit Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux wurde Landschaft im europäischen Kulturhorizont mit ästhetischen Kategorien wahrgenommen und schon für Leonardo, spätestens mit Paul Klee, galt die gezeichnete Linie als ein »Spaziergang um seiner selbst Willen«. In diesem Zeitfenster – von Petrarca bis Klee – sind Linie und Landschaft ­poetologisch aufeinander bezogen worden. In den formbildenden Kräften der Natur, so Schelling in seinem Vortrag über das Verhältnis der bildendenden Künste zu der Natur, zeige sich eine Analogie zu forma formans und forma formata der künstlerischen Gestaltung.
Nur weil Linie und Landschaft die abstrakten und physischen Pole von Kultur und Natur anschaulich werden lassen, kann ihre innere Affinität auch strukturell und semantisch in die Gestaltung eingehen. Die Zeichnung ist demnach das paradigmatische ›Zwischenmedium‹ dieser natürlich-künstlerischen Konstellationen und gleichzeitig der Ort ihrer konzeptuellen Entgrenzungen.
Als La Monte Young um 1960 seinem Freund Robert Morris eine Arbeit mit dem Titel Draw a Straight Line and Follow It widmete, musste dieser den Imperativ als Aufforderung auffassen, die Linien nicht mehr nur zu betrachten (wie bei Klee) oder die Landschaften zu imaginieren (wie bei Petrarca), sondern sich selbst an der Zeichnung zu engagieren. Morris begann später die Serie der Blind Time Drawings, die über ein tastendes Gespür für interpersonelle Kontakte eine experimentelle Triangulation zwischen Zeichner, Zeichnung und Betrachter aufwurf. Der Raum der Zeichnung öffnete sich aber auch auf einen menschenleeren Raum. So ›zeichnete‹ Richard Long nicht mehr auf Papier, sondern fortan direkt in die Landschaft (Walking a Line in Peru, 1972) und Walter de Maria entwarf in Nevada sein raumgreifendes Las Vegas Piece (1969). In dieser Landschaftskunst verwandelt sich die Linie in eine Schneise durch die endlose Weite von Prärie und Wüste. Der Weg ist aufgehoben im unbegrenzten, aber geteilten Land.
Wenn Petrarcas Blick vom Mont Ventoux ein poetisches Bild der Landschaft entworfen hatte, das, wie in Orvieto oder Pienza, ein Panorama überblicken ließ, begibt sich der konzeptuelle Zeichner nun selbst in dieses Bild. Er verläuft sich auf den Holzwegen im zunehmenden Dickicht. Seine blinden Gesten deuten auf mangelnde Orientierung und den diffusen Wunsch, Auswege aus den Irrwegen der Moderne zu finden. Die Utopie als ›Nicht-Ort‹ wird zum neuen Grund der Zeichnung, denn Wege lassen sich immer auch erneut beschreiten. Heimliche, alternative Modernen werden dann sichtbar: als Randgänge der Zeichnung, auf Spuren einer ›Altermodernité‹... Wiederholbarkeit ist dann eine methodische Alternative – wenn auch keine diametrale, zur affirmativen Akzeleration der Abkürzungen. Wer weiß – vielleicht eröffnen gerade die zeichnerischen Iterationen zwischen Linie und Landschaft einen reflexiven Denkraum für Fragen, die mehr Zeit beanspruchen, da sie weniger die Gesten beschwören, als die Spuren untersuchen, die das Antwortregister der Moderne präsentiert: Cuias es? Quo vadis, homo pictor? – ›Woher kommst du, wohin gehst du?‹ ist die Doppelfrage nach den ungenutzten Möglichkeiten einer vergangenen Zukunft.
Matteo Hofers zeichnerischer Denkweg scheint mir wiederholt auf diese Fragen gestoßen zu sein. Die reflexive Wiederholbarkeit spazierbarer Linien um ihrer selbst Willen hat er in seinen ­walklines im Zwischenfeld von Performance und Kartographie sichtbar gemacht. Bislang hat Hofer 17 ›Spaziergang-Partituren‹ aufgezeichnet. Die Maße der Partituren verweisen auf die Kilometer-Distanzen beim Spazieren vor Ort. Die Uhr des GPS im Weltraum geht jedoch ­wenige Millisekunden langsamer als die Zeit auf der Erde. Diese mini­male Differenz verweist auf einen neuen blinden Fleck, der das alte ­punctum caecum, das im Übergang zwischen blinder Geste und materieller Spur lag, nun ablöst. Das GPS ist ein völlig neues Zeichengerät, aber vorerst genauso linear wie seine kartographischen Vorgänger. Wie eine Wanderkarte erlauben auch die GPS-Partituren eine exakte, körperliche Selbstvorortung.
Der Walk findet damit nicht allein in der zeichnerischen Imagination auf dem Blatt Papier statt, sondern kann auch geo-graphisch in der Landschaft nachvollzogen werden. Zumindest steht dies einer Rezeption des Werkes nicht im Wege. Die walklines werden so zur wiederholbaren Performance; zur Iteration einer linearen Spur, die von Bern, Zürich, Basel, Littau und Reussbühl sogar einen (technologischen) Umweg in den Weltraum nehmen musste.
Wenn iter im Lateinischen somit einerseits den ›Weg‹ benennt, verweist die Etymologie der Linie andererseits auf das linum (›Leinen‹) als der Textur eines Linienkörpers. Dieser verweist zurück auf den menschlichen Körper: Des urbanen Flaneurs, wie bei Walter Benjamin, oder vielleicht besser: des Berner Spaziergängers à la Robert Walser. Matteo Hofer verfährt also in zweifacher Hinsicht ­›choreographologisch‹: Er zeichnet seine Spaziergänge zunächst am eigenen Leib auf und transkribiert sie dann als Karte oder Partitur, um sie so für Andere iterierbar und somit erneut körperlich erfahrbar zu machen. Orientierung bot dabei nicht nur die Konzeptkunst, sondern auch die von Lucius Burckhardt initiierte Promenadologie.
Hofer geht in blind alley aber noch einen Schritt weiter: Hier werden die Landschaften auch über die Hörerfahrung einer ›erzählten Spazierlinie‹ erschlossen. Wenn Schelling betonte, dass Begriff und Tat, Entwurf und Ausführung in der Natur nicht getrennt voneinander existieren, wird im Kunstraum eine konstitutive Absenz von Naturwirklichkeit erfahrbar. Stimme und Geräusche verweisen auf einen anderen Ort außerhalb von Galerie und Museum. Matteo Hofers ­walklines appellieren damit an eine Wirklichkeitserfahrung jenseits der Konzepte und Institutionen, die sich in eine Sentenz philosophischer Provenienz fassen lässt: »Wege statt Werke«.
Die Differenz zwischen dem Zeichnen als einer prozessualen Existenz­form und dem überzeitlichen Artefakt der fixierten Zeichnung steht in diesem Sinne auch im Zentrum der Installation A Draughtsman’s Distraction. In drei Stufen untersucht Hofer ­visuelle Projektionen mit Lucida-Brille, Zeichen-Rolltisch und Camera lucida um ein »geheimes Wissen« (David Hockney) der Zeichenkunst aufzuspüren und wiederzubeleben. Hofer stellt den Artefakten dabei ihren korrelativen Entstehungsprozess gegenüber. Die prozessuale Zeichenszene, die wohlgemerkt nicht graphisch, sondern filmisch oder photographisch, festgehalten ist, zeigt die geübte oder gelehrte Hand (docta manus) in verschiedene Unschärferelationen versetzt. Auf den Blättern werden die fragilen Lineaturen sichtbar und verweisen so aus der Spur heraus auf die Geste der Hand. Die Widerstände, die diese zu überwinden hat, nennt Matthew Barney treffend die »Drawing Restraints«. Denn Virtuosität wird hier nicht allein abgerufen, sondern im Bereich der Nichtintentionalität entfremdet. Man könnte hier von einer ›wahnsinnigen Virtuosität‹ sprechen – in dem Sinne, dass der virtuose Berührungssinn der zeichnenden Hand optisch und buchstäblich ver-rückt wird.
Mit malus, den »visuellen Protokollen der Aktion mit dem Apfel«, führt Hofer darüber hinaus eine symbolische Dimension ein, die jenseits der prozessorientierten oder performativen Absichten für den Blick auf sein zeichnerisches Denken aufschlussreich ist: Denn der Apfel (malus) kann biblisch konnotiert sein, er mag an Cézanne erinnern und kann Kennern der griechischen Geschichte sogar die gleichnamige Landschaft im Osten der Troas, dem Quellgebiet des Granikos, in Erinnerung rufen. Hofers Zeichnungen sind nicht nur hier essentiell vieldeutig.
Ihre Sinnoffenheit nimmt in riempire il vuoto schließlich die ­kadrierte Form einer leeren, zu bespielenden Hängungswand auf. Nur das leere Pannelraster aus Hergés le temple du soleil von 1949 wird übernommen, aber dann mit 840 neuen Skizzen des Künstlers gefüllt. Auf ironische Weise nähert sich der wandernde Künstler so dem scheinbar ›unnatürlichen‹ White Cube, den er im Gespräch (selbst-)kritisch als ›Neuland‹ bezeichnet. Matteo Hofer gelingt dieser Übergang, indem er sich auf einen vertrauten Ort – sein Notizbuch – stützt. Die Zeichnung wird dabei erneut zum allerorts wandelbaren ›Zwischenmedium‹, das nun aber nicht mehr zwischen Linie und Landschaft, sondern der Kindheitslektüre des Sonnentempels und den ­Appropriationen im Kunstraum der ›grown-ups‹ vermittelt.

Toni Hildebrandt,
Lissabon, August 2014


Ausgewählte Ereignisse


Ausgewählte Ereignisse

2016 Art Basel: After-Show-Show – Gruppenausstellung mit Dietmar Kampf, Matthias Kanter, Monika Müller, Mike Strauch, Klaus Walter und Matteo Hofer
RADIKE | KITTELMANN: Galerie AG für zeitgenössische Kunst, Basel / CH
2015 Schattenbummel – Gruppenausstellung mit Oliver Boberg und Wermke/Leinkauf (inspiri­ert vom Schweizer Filmk­las­siker «Reisender Krieger», 1981 von Chris­t­ian Schocher)
Alpineum Produzentengalerie, Luzern / CH
2014 A Draughtsman's Distraction – Einzelausstellung (Kunstförderungsbeitrag "Kunstschub")
Atelier Worb, Worb / CH
2014 Art Loop Nr. 12: Schwamendingen – Kunstspaziergang durch den Zürcher Stadtkreis 12, Aktion, Intervention in öffentlichen Raum (in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Kunst und Bau Zürich)
Zürich / CH
2014 weg – das trinationale festival des spazierens –textbasierter Spaziergang im Rahmen des trinationalen Festivals des Spazierens, Aktion, Intervention in öffentlichen Raum
Basel / CH, Hégenheim / F
2013 The Book Lab – Gruppenausstellung, @ swissnex,
San Francisco / USA
2013 westwärts – Enzelausstellung im off center Bern, partizipative Aktion, Intervention in öffentlichen Raum
Bern / CH
2013 Art Loop Nr. 6: Unter- & Oberstrass – Kunstspaziergang durch den Zürcher Stadtkreis 6, Aktion, Intervention in öffentlichen Raum (in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Kunst und Bau Zürich)
Zürich / CH
2012 Art Loops durch die Zürcher Stadtkreise – vier Kunstspaziergänge durch den öffentlichen Raum der Stadt Zürich (in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Kunst und Bau der Stadt Zürich).
Zürich / CH
2012 startup. ein wildes ideenpitching – Gruppenausstellung in der Kunsthalle Luzern
Luzern / CH
2011 Werkschau 2011 / Master Kunsttour – Gruppenausstellung im öffentlichen Raum der neuen Luzerner Stadtteile Littau und Reussbühl
Luzern / CH
2012 Walklines durch Littau und Reussbühl
Webprojekt / Intervention im öffentlichen Raum Luzern / CH
2010 Arbeiten publiziert in: Lernen ist eine lange Reise voller Überraschungen. Herausgegeben von der Hochschule Luzern - Design und Kunst.
2010 Symposium der Schweizerischen UNESCO-Kommission – Konzept und Gestaltung des künstlerischen Rahmenprogrammes
Luzern / CH
2009 Werkschau 09 Gruppenausstellung
Luzern / CH


Auszeichnungen


2013 Kunstschub – Kunstförderungsbeitrag des Atelier Worb
2011 G.H. Hartmann Preis
2011 Max von Moos-Förderpreis
2009 Nominierung für den Förderpreis HSLU D+K 2009